(Trans*)Identität

„Ich bin im Bett gelegen, acht Stunden lang, und hab mir einfach nur vorgestellt wie ich mir am leichtesten gerade das Leben nehmen kann, damit die Schmerzen aufhören. Du weißt gar nicht was Schmerzen mit dir anstellen können. Wenn du so starke Schmerzen hast, dass du denkst, dass sterben gerade einfach viel schöner wäre, als die Schmerzen weiter auszuhalten.”

AJ hatte also nicht wirklich eine Wahl. Nicht, wenn er jemals mit sich selbst, mit seinem Körper, glücklich sein wollte. Wie er mir und schon so vielen anderen, sehr eindringlich erzählte, war es nie wirklich seine Entscheidung geschlechtsangleichende Operationen durchführen zu lassen. Er hat sich nicht ausgesucht so auf die Welt zu kommen. Alex, wie er nun heißt, ist ein Mann, der im Körper einer Frau geboren und gefangen ist und das versucht er jetzt zu ändern. 

Von der Frage, ob es das wert ist
Ich habe mit AJ zwei Wochen nach seiner letzten Operation gesprochen. Er hat danach von seiner Hausärztin stärkere Schmerzmittel verschrieben bekommen, Opiate um genau zu sein. Viele Leute verstehen nicht, wieso jemand solche Schmerzen in Kauf nimmt. Einige haben AJ schon gefragt, ob es das wirklich wert ist. „Ja, es is’ es wert. Auch wenn ich im Bett krepier, es ist es wert! Weil, wie ich gesagt hab, ich sterbe lieber so, während dem Prozess, als zu sagen, ich sterbe ohne es je probiert zu haben.” 

Mit 19 hat AJ bereits seine zweite Operation hinter sich. Nach der Mastektomie und Hysterektomie, der Entfernung der Brust und der Gebärmutter im Sommer, hat er nun einen weiteren Schritt in seiner Geschlechtsanpassung unternommen. Doch es wird ihn noch einige Operationen und etliche Schmerzen kosten bis AJ endlich seinen Körper vor sich sieht, so wie er für ihn sein sollte. Er hat sich entschieden, alle ihm möglichen Schritte zu setzen. Von der Änderung des Personenstandes, also des Namen und Geschlechts im bürokratischen Sinne, über die Hormontherapie, bis zu den verschiedenen operativen Möglichkeiten, sein Äußeres an sein Inneres anzupassen. 

Dass es dabei wortwörtlich um Leben und Tod geht, wird nicht nur bei den Gefahren durch die Operationen deutlich. Denn diese Situation vor zwei Wochen war nicht die erste, in der AJ sich mit seinem Tod beschäftigt hat. Viel weiß AJ von seiner Kindheit und Jugend nicht, vieles dürfte er verdrängt haben. Was ihm jedoch ins Gedächtnis gebrannt ist, das ist der Tag seines Suizidversuches, denn es war der Geburtstag seines Bruders. Dieses Datum trägt er jetzt als Tattoo am Körper, zusammen mit einer Entschuldigung an seinen Bruder. So schrecklich dieser Moment auch war, er war der ausschlaggebende Punkt für AJs Transition. In der Klinik bekam er die Therapie, die er brauchte und der Stein für seine Geschlechtsanpassung wurde ins Rollen gebracht. Das angespannte Verhältnis zu seiner Mutter hat sich in den letzten Jahren nicht nur gebessert, es ist sogar so gut wie nie zuvor.

Von den Qualen der Wahl und ihren Ergebnissen
Von diesem Happy End hatte AJ aber damals, als Jugendlicher, leider noch nicht die geringste Ahnung. In der Oberstufe führte er ein Doppelleben. Zu Hause war er noch die Tochter und Schwester, in der Schule und der Arbeit durfte er schon Alex sein. Als jedoch die beiden Welten aufeinander trafen gab es einen gewaltigen Krach in seiner Familie. Plötzlich stand er vor einer unmöglichen Wahl, entweder er geht seinen Weg alleine, oder er bleibt mit sich selbst unglücklich und behält dafür seine Familie. „Und wenn man mich kennt weiß man, dass ich voll der Familienmensch bin und dass mir Familie sehr wichtig ist. Und das waren irgendwie beide Scheißlösungen. Ich hab mich dann voll unter Druck gesetzt gefühlt, dass ich mich irgendwie entscheiden muss, dass ich lieber keine Entscheidung treffe, und dass alles vorbei ist. Weil dann hab ich eh gar nichts von beidem.” 

Durch den Druck, den Suizidversuch, und den Knall den er auslöste, ist nicht nur der Ball Geschlechtsanpassung ins Rollen gekommen. AJ meint, dass seine Mutter dann auch endlich begriffen hat, dass mehr dahinter steckt, dass es ernst und ernstzunehmend ist. Als sie ihn vor einem Jahr bei seinem Maturaball sah, und wie glücklich er war, nahm sie ihn in den Arm und meinte sie sehe jetzt, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat.

Von dem Verlust der Weiblichkeit
AJ hatte seine Hysterektomie ein Jahr nach jener seiner Mutter, die sich aufgrund einer Krebserkrankung ebenfalls ihre Gebärmutter entfernen lassen musste. Er konnte sie damals in dieser schweren Zeit unterstützen. In unserer Gesellschaft wird Weiblichkeit oft durch die Fähigkeit Kinder zu gebären definiert. Für viele kommt der Verlust dieser also mit dem Verlust ihrer Weiblichkeit gleich. Doch AJ, als Mann der im Körper einer Frau aufgewachsen ist, versteht, dass die Geschlechtsidentität nicht an den Körper gebunden sein muss. „Ich hab zu ihr gesagt: Du, Mama, ich bin ja auch ein Mann, obwohl mein Körper etwas komplett anderes sagt und du bist trotzdem eine Frau, auch wenn der Teil von dir jetzt fehlt.”

Von (Selbst-)Diagnosen und der Zukunft von trans*
„Nicht jede trans* Person entschließt sich die gesamte Geschlechtsanpassung zu vollführen. Trans* sein heißt nicht, dass man sich automatisch operieren, Hormone nehmen, oder sonst etwas an sich ändern muss“, wie mir der Wiener Psychotherapeut Hans-Peter Bangerl erklärt. Er beschäftigt sich, unter anderem, mit Intergeschlechtlichkeit, Sexualität und Trans*-Identität, und hat bereits etliche Personen in ihrer Transition begleitet. Er meint, „dass für manche die Erkenntnis trans* zu sein völlig ausreicht. Doch zu dieser Diagnose zu kommen, ist oft nicht so einfach.“ 

Laut Bangerl ist Transgender großteils eine Selbstdiagnose, und so ist es auch im ICD-10 angegeben. Der ICD ist ein international anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen das laufend aktualisiert wird. In der neuesten Fassung, dem ICD-11, welcher 2022 in Kraft tritt, wird trans* nicht mehr als Krankheit klassifiziert. Stattdessen fällt es nun unter sexuelle Gesundheistzustände. Doch was heißt das genau? Im Grunde ist diese Änderung ein zweischneidiges Schwert. Zum einen werden trans* Personen nicht mehr als krank angesehen und zum anderen fällt damit in Österreich die Finanzierung von Transitions durch die Krankenkassen weg. Eine Tatsache, die von den Krankenkassen mit Begeisterung aufgenommen werden wird, meint der Psychotherapeut. Er glaubt nicht, dass sich die Krankenkassen wieder dazu bewegen lassen die Betreuung und Behandlung von trans* Personen weiter zu finanzieren. Ohne Finanzierung ist der Weg nicht nur ein weiter, sondern vor allem auch sehr teuer. 

Auf die Frage, ob denn der ganze Aufwand, die Amtswege und Stellungnahmen, gerechtfertigt sind, antworten sowohl AJ als auch Bangerl mit einem klaren Ja. Denn was es für einen solchen Prozess neben Unterstützung braucht, ist Zeit. Zeit, die Erkenntnis einsickern zu lassen. Zeit, in der wahren Geschlechterrolle zu leben. Zeit, für die Betroffenen und deren Familien, Partner*innen, und Freund*innen diese neue Realität zu (er)leben. Dies ist auch Bangerl’s Wunsch für die Zukunft, „den Menschen Zeit zu geben, sie gut und gründlich vorzubereiten, nicht nur auf den körperlichen Teil der Anpassung, sondern auch auf den psychischen Aspekt. Es geht hier ja primär um die Findung der Identität und so etwas geht niemals schnell von statten.“

Von Identitätsfindung und Freiheit
Das gilt natürlich nicht nur für trans* Personen, oder Erwachsene. Auch Kinder kann man bereits in ihrer Identitätsfindung unterstützen, indem man ihnen Zeit und Raum gibt, sich zu entfalten, auszuprobieren, und auszuforschen. Bangerl spricht sich auch dagegen aus, dass Kinder in eine Geschlechtsidentität gedrängt werden. „Lieber soll man offen und altersangemessen mit Kindern über Themen wie Identität, Sexualität, etc. sprechen, wenn diese es auch wollen und danach fragen. Aufklärung und Offenheit können sowohl zuhause, als auch in der Schule dazu beitragen Vorurteilen, Missverständnissen und Schmerzen entgegenzuwirken“, empfiehlt der Psychotherapeut.

Eine der größten Erkenntnisse, die AJ aus seinem bisherigen Leben gelernt hat, ist diese: „Dass man nicht versuchen sollte, es anderen Leuten recht zu machen, weil es bringt nichts, du wirst es nie jedem recht machen und es bringt dir nichts, wenn du dann unglücklich bist. Man muss immer auf sich selber schauen, aber nur so weit man keinem anderen damit schadet und das tu ich nicht.“ Um es also noch einmal zusammenzufassen: Sei so frei wie du kannst, ohne andere ihrer Freiheit zu berauben.

Titelbild: AJ | © Sabrina Petz