Beim Lesen des kürzlich im Splitter Verlag erschienen Comics „Coming In“ ging mir folgende Frage nicht aus dem Kopf: Was macht einen Comic eigentlich queer? „Queere Comics sind Comics von queeren Menschen, über queere Erfahrungen und für eine queere Community,“ so lautet meine Standard-Antwort auf diese Frage. Doch „Coming In“ rüttelte an einem wunden Punkt dieser griffigen und scheinbar klaren Definition.
Coming-In als Prozess
Der autobiografische Comic erzählt das lesbische Zu-Sich-Selbst-Kommen der französischen Journalistin Élodie Font von der Kindheit bis in ihre Dreißiger. Grafisch in Szene gesetzt wird das Ganze von der Comic-Künstlerin Carole Maurel. Der Comic ist also von queeren Menschen. Erster Check bestanden. Im Comic dreht sich alles einprägsam darum, wie für Font die Identitätsfindung nicht mit der ersten lesbischen Beziehung oder mit Coming-Out bei Freund:innen und Eltern erledigt war.
Das titelgebende „Coming In“ war für Font keine plötzliche Eingebung, sondern ein oft mühsamer Streit mit sich selbst, mit ihren Erwartungen, ihrer Sozialisation, ihrem Selbstbild. Exemplarisch dafür steht im Comic ein mentaler Boxkampf, bei dem sich Font selbst bezwingen muss und ihr queeres Begehren zum ersten Mal über ihre heterosexuellen Erwartungen triumphiert. Im Zentrum steht weniger ein durchgehendes Narrativ, als solche Momente und queere Erfahrungen vermittelbar zu machen. Check zwei bestanden.
Mainstream als Zielpublikum
Bleibt also Check drei: Ist „Coming In“ ein Comic für eine queere Community? Über diesen Punkt stolperte ich zunehmend beim Lesen. Denn zunächst scheint die Antwort „Nein“ zu sein. Font und Maurel bemühen sich sichtlich, Sachverhalte, Beziehungsstrukturen und Szene-Details für ein Mainstream-Publikum verständlich darzustellen. Sie erklären Begriffe wie „Gaydar“ in Fußnoten. Insgesamt bietet „Coming In“ eine ästhetische, zugängliche, stellenweise sogar didaktische Illustration der queeren Szene. Wenn da nicht die Spezifität wäre, mit der Font ihre queeren Erfahrungen als lesbische Frau beschreibt.
Abstrakte Erfahrungen
Am deutlichsten wird dies im Vergleich zu einem anderen Comic: „Parallel“ von Matthias Lehmann ist ein reichhaltiger Comic. Über 450 Seiten, die ein halbes Jahrhundert aus dem Leben eines heimlich schwulen Mannes überspannen. Der Comic ist ästhetisch und dramaturgisch souverän aufgearbeitet, der Stoff an sich spannend und die Figuren präzise umrissen.
Doch der Comic konnte mir nicht näherbringen, wie sich das Leben für einen schwulen Mann im Deutschland der Nachkriegszeit angefühlt haben muss, was es für ihn und alle Beteiligten bedeutet haben muss, sich gezwungen zu sehen, eine heterosexuelle Ehe einzugehen. Der Comic sprach über diese Dinge, aber er sprach nicht zu mir. Zu abstrakt, zu schwammig, zu unspezifisch fühlten sich die beschriebenen Ereignisse an.
Spezifische Toiletten
Wenn Font beschreibt, wie sie von Freund:innen mit ihrer Sexualität konfrontiert wird, im Radiosender gemobbt wird oder ihren Eltern erzählt, dass sie lesbisch ist, dann habe ich das Gefühl, dass es sich da um spezifische Erfahrungen handelt. Um Dinge, die eine gewisse Einzigartigkeit haben. Wenn Lehmanns Protagonist Sex auf einer öffentlichen Toilette hat, dann könnte das jede Toilette in Deutschland, im Prinzip jede Toilette auf der Welt sein.
Indem die Erfahrung allgemeiner und abstrakter wird, wird sie auch beliebiger. Nur indem die dargestellten Erfahrungen spezifisch wirken, kann ich zur Figur eine Beziehung aufbauen, kann ihre Erfahrungen in ein Verhältnis zu meinen eigenen stellen. „Coming In“ beweist eindrucksvoll, dass ein Comic auch dann zu einer queeren Community sprechen kann, wenn er sich nicht explizit oder primär an diese richtet.
„Coming In“ von Élodie Font und Carole Maurel ist vor Kurzem in deutscher Übersetzung von Sophie Beese im Splitter Verlag erschienen. „Parallel“ von Matthias Lehmann erschien letztes Jahr im Reprodukt Verlag.
Titelbild: Ausschnitt aus dem Comic „Coming In“ von Élodie Font und Carole Maurel | © „Coming In“
forscht als Medienwissenschaftler zu queerer Pop- und Netzkultur, verdingt sich sein Brot aber vorwiegend als freischaffender Grafiker und Journalist. Gerüchten zufolge sei seine Forschung ohnehin nur Ausrede für einen hemmungslosen Medienkonsum; eine Feststellung, welche er vehement – wenn auch wenig glaubwürdig – dementiert. Queere Webcomics haben es ihm besonders angetan. Frisch aus der oberösterreichischen Provinz in Wien eingetroffenen, waren sie vor 15 Jahren sein erster Anknüpfungspunkt zu einer queeren Community.