Kampf gegen den eigenen Körper

Die Anzahl von Personen mit Essstörungen hat während der Pandemie laut Studien noch weiter zugenommen. Vor allem betroffen sind Frauen*, und auch trans Personen leiden oft unter dieser psychosomatischen Erkrankung. Die klinische Psychologin Stefanie Gruber vom Drogenberatungszentrum Graz, das auch Essstörungen behandelt, im Gespräch über gesellschaftliche Erwartungen und Behandlungsmöglichkeiten.

Allgemein wird immer noch angenommen, dass Essstörungen vor allem ein Frauen*phänomen sind – kannst du das aus deiner Praxis heraus bestätigen? 

Stefanie Gruber: Das ist auf jeden Fall so. Sowohl was Untersuchungen zeigen, als auch das, was ich aus meiner Praxis heraus erlebe, sind Essstörungen nach wie vor großteils ein Frauen*phänomen. Bei uns sind es fast 100% Frauen*, die zu uns kommen.

Warum sind Frauen* stärker davon betroffen?

Das hat sicher mit dem gesellschaftlichen Bild von Männern und Frauen zu tun. Essstörungen entstehen häufig in der ersten Stufe der Pubertät – und da entwickeln sich der männliche und der weibliche Körper sehr unterschiedlich. Man  kann das natürlich nicht pauschal sagen, aber meistens ist es so, dass der weibliche Körper sich in eine Richtung verändert, die gesellschaftlich nicht anerkannt oder gewünscht ist. Er soll schlank und schön sein – viele Mädchen bemerken in der Pubertät aber, dass sich ihr Körper genau in die andere Richtung verändert, kurviger wird und Rundungen bekommt. 

Bei Burschen ist das genau umgekehrt, ihr Körper verändert sich in eine Richtung, die gesellschaftlich gewünscht ist: Sie wachsen, bekommen Bartwuchs und werden tendenziell muskulöser. Das wird nicht von allen, aber von den meisten Männern als positiv gewertet.

Es gibt sehr viele weitere Faktoren, die mit hineinspielen, aber der größte ist auf jeden Fall, dass sich weibliche Körper auf natürlichem Weg anders entwickeln als es gesellschaftlich gewünscht wird.

Laut Studien sind Essstörungen in der LGTBIQ+-Community weit verbreitet. Woran liegt das deiner Ansicht nach? 

Dazu gibt es sehr viele verschiedene Studien – manche sagen, dass die Community viermal häufiger an Essstörungen erkrankt, manche ergeben sogar eine noch höhere Häufigkeit. 

Es spielt sicher eine Rolle, dass der gesellschaftliche Druck in dieser Gruppe noch einmal um einiges größer ist. Oft stehen die Personen eher im Abseits und werden nicht zur Gänze akzeptiert, es gibt sehr viel mehr Gewalt und Diskriminierung. Alles, was den Selbstwert schwächt, macht dich anfälliger für eine Essstörung. 

Und natürlich sind viele Männer und Frauen betroffen, die, wenn sie merken, dass sie anders sind, erst einmal nach ihrem Platz suchen müssen und sich verloren fühlen. Dafür kann eine Essstörung wie ein Lösungsweg wirken, in den man sich hinein flüchten kann. 

Bei trans Männern und homosexuellen Männern, wird oft das abgelehnt, was als typisch männlich gilt: Man möchte nicht muskulös sein und breite Schultern haben, sondern möglichst dünn und schlank sein – so wie es auch von Frauen* erwartet wird.

Welche Anzeichen gibt es bei Essstörungen? Und wie geht man am besten damit um, wenn Personen im Bekanntenkreis solche zeigen? 

Das kommt natürlich darauf an, um welche Art von Essstörung es sich handelt. Was alle gemeinsam haben, ist ein sozialer Rückzug, weil die Essstörung einfach einen großen Teil des eigenen Lebens einnimmt. Die Betroffenen verbringen ganz viel Zeit mit ihrer Essstörung, dem Thema Essen oder Nicht-Essen und Sport.

Und natürlich, wenn ein niedriger Selbstwert eine Rolle spielt, fühlt man sich oft in sozialen Kontakten nicht mehr so wohl. Wenn sowohl soziale Kontakte als auch auch Hobbys aufgegeben werden und sich Personen sehr stark in das häusliche Umfeld zurückziehen, ist das eindeutig ein Warnsignal.

Anorexia Nervosa – also Magersucht – macht sich zudem vor allem durch einen hohen Gewichtsverlust bemerkbar, und ein insgesamt ungesundes Aussehen. Es gibt auch Personen, die auf natürliche Weise sehr dünn sind, aber bei jenen, die unter Anorexie leiden, ist das etwas ganz anderes.

Bei Menschen mit Bulimia Nervosa, also der Ess-Brech-Sucht, ist es oft schwerer zu erkennen, oder es dauert zumindest ein bisschen länger. Es gibt Veränderungen bei Haut und Haaren und manchmal auch recht starke Gewichtsschwankungen, aber das ist oft viel schwerer einschätzbar – Bulimiker:innen können das oft sehr viel länger geheim halten.  Aber auch hier werden Wesensveränderungen sichtbar sein.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es für Essstörungen? 

Wichtig ist, dass es ein Netzwerk von Behandlungsmöglichkeiten gibt. Auf unterster Ebene können da auch der:die Schul- oder Hausärzt:in eine Rolle spielen. Und natürlich kommt es auch auf die Art und Schwere der Erkrankung an. Manchmal reicht es, wenn der:die Hausärzt:in regelmäßig das Gewicht kontrolliert und eine Diätologin beim „normalen“Essverhalten nachhilft.

Aber bei vielen – weil es eine psychosomatische Erkrankung ist – spielt auch die Psyche eine große Rolle und es ist ratsam, psychosoziale Beratung in Anspruch zu nehmen. Wenn das nicht mehr ausreicht, gibt es sogenannte Tageszentren, in denen die Betroffenen tagsüber betreut werden. In ganz besonders schlimmen Fällen, kann auch ein Krankenhausaufenthalt ratsam werden. Das wäre die Behandlungskette, wobei man immer schauen muss, was für den:die Betroffene:n notwendig ist. 

Titelbild: symbolbild | © Annie Spratt on unsplash.com