Erwachsensein ohne Eltern

Mit 18 ist man erwachsen, zumindest von der rechtlichen Seite. Aber wer ist schon mit 18 erwachsen? Ich bin 27 und fühle mich trotzdem noch zu jung, um eine Ahnung vom Leben zu haben. Manchmal braucht man auch mit 27 noch seine Eltern. Aber was, wenn sie nicht da sind?  

Traurigerweise kenne ich mehrere Personen, die ihr erwachsenes Leben ohne einen oder beide Elternteile navigieren müssen. Die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich. Nicht nur Verstoßung oder Abspaltung, sondern auch Tod führten dazu, dass plötzlich elterlicher Rückhalt fehlt. 

Was heißt „Erwachsensein ohne Eltern“? 

Mir war bis vor kurzem nicht bewusst, was genau es heißt, elternlos erwachsen zu sein. Im Alltag fällt es eigentlich nicht wirklich auf. Weicht man vom Alltag ab und gerät in eine Ausnahmesituation, ob gut oder schlecht, wird einem auf einmal klar, wie sehr man sich elterliche Unterstützung und Rückhalt wünscht. Sorgen um Geld, die eigene Gesundheit, die GIS, oder der Gedanke, einen Teil der eigenen Familie nicht bei der Hochzeit haben zu können, plötzlich wird klar, wie einsam und schutzlos man dasteht.

So ging es zumindest mir persönlich. Doch: Nicht jede Erfahrung ist gleich und nicht jede Erfahrung muss negativ sein. Zumindest zwei meiner Interviewpartner:innen haben trotz Verlust Stärkung gefunden. Anna-Maria ist Halbwaise, Elliot konnte mit Hilfe des Jugendamts mit 17 das Zuhause verlassen. Beide empfinden Erwachsensein ohne Eltern(-teil) nicht als ständige Herausforderung. 

Positives und Negatives

Anna-Maria war bereits 18 und wohnte nicht mehr zu Hause, als ihr Vater verstarb. In ihrem Alltag veränderte sich also nicht viel. Der Verlust eines Elternteils tut weh, aber zum Glück hatte sie noch eine Mutter, die sie unterstützt und ihr Rückhalt gibt – so ließ sich das Leben trotzdem meistern. 

Elliot hat zum Beispiel weder Mutter noch Vater. Zwar sind beide am Leben, jedoch fehlt jeglicher direkter Kontakt. Das war Elliots Entscheidung, hier geht es um Selbstschutz, um mentale und seelische Gesundheit, diese haben Vorrang. Natürlich war es hart, doch bereuen tut Elliot nichts. Eine selbst gewählte Familie, die Chosen Family, und (quasi) Adoptivmutter unterstützen, wo biologische Eltern es nicht tun.

Auf der anderen Seite stehen Hannah und ich, und leider noch viele andere. Hannah ist mein jüngstes Geschwisterkind. Mit siebeneinhalb Jahren Altersunterschied wurde die gemeinsame Kindheit doch etwas anders erlebt. Trotzdem gingen wir beide mit genügend Trauma und ähnlichen Diagnosen daraus hervor. Die Entscheidung, den Kontakt abzubrechen, kam dann etwa zur gleichen Zeit, für mich also recht spät. Es dauerte einige Zeit, um „aufzuwachen“ und die Realität zu sehen. 

Gar kein Kontakt?

Die Entscheidung, den Kontakt abzubrechen, war nicht leicht, ebenso ihre Umsetzung. Leider ist komplette Funkstille bis heute nicht möglich. Wie Hannah es formuliert – es ist kein “freiwilliger Kontakt. Das einzige, was ich tun kann, ist nicht zu reden, nicht zu reagieren und mich nicht auf sie zu verlassen. Wenn es mir finanziell, gesundheitlich, emotional schlecht geht, kann ich ihnen nichts davon erzählen. Denn jegliche noch so kleine Information ist Munition, die gegen mich verwendet werden kann. 

Eine Zukunft ohne Eltern?

Die Frage danach, welche Rolle meine Eltern in meiner Zukunft spielen oder nicht spielen würden, war für mich bis vor kurzem nicht allzu relevant. Eine Verlobung später ist es dann doch auf einmal eine dringende Angelegenheit. Kann und will ich meine Eltern bei der Hochzeit haben? Wie erkläre ich ihr Fehlen? Falls wir Kinder haben, dürfen sie diese kennenlernen? Will ich sie in ihrem Leben haben? Die Angst und Sehnsucht führen in meinem Inneren einen Zweikampf aus.

Erwachsensein ohne Eltern tut unglaublich weh, egal wie und wieso man in diese Situation gelangt ist. Erwachsensein ohne Eltern ist oft einsam und die Leere lässt sich nur selten füllen. Erwachsensein ohne Eltern ist Verlust und in manchen Fällen auch Freiheit. Ohne Eltern ist man vogelfrei.

Titelbild: Symbolbild | Katherine Chase on unsplash.com