Warum ist Hyperpop so queer?

Bei Kritiker:innen und Fans beliebt, stößt das Genre Hyperpop Ersthörer:innen oft vor den Kopf. Doch gerade aus queerer Perspektive lohnt sich hier ein zweiter Blick.

„Warum ist Hyperpop eigentlich so queer?“ fragte mich ein Freund neulich, nachdem ich ihm „My Agenda“ von Dorian Electra vorgespielt hatte. Dass dieser spezifische Track queer ist, war für ihn offensichtlich. Für diese Feststellung reicht schon das Musikvideo, in dem Dorian Electra in unterschiedlichstem, genderqueerem Drag auftritt, mit militanten Regenbogen-Furries tanzt und auf einer queeren Bombe in die Regenbogenexplosion reitet. Subtil ist Hyperpop nicht. Aber die Frage meines Freundes ging tiefer. Warum ist es gerade dieses artifizielle, maximalistische, ständig zwischen zuckersüß und dissonant schwankende Genre, dass seit einigen Jahren queere Künstler:innen und Fans anzieht? Warum ist Hyperpop als Genre so queer?

Alle Regler auf Maximum

Hyperpop begann erst Mitte der 2010er zu so etwas wie einem Genre zu verschmelzen. In den Ofen kamen dabei so unterschiedliche Zutaten wie Nightcore, Vaporwave, J-Pop, Emo Rap und EDM. Im Kern dieser Schmelze lag das britische Label PC Music rund um Gründer A.G. Cook und Produzentin SOPHIE. Der musikalische Stil, der sich dabei heraus bildete, ist gezeichnet von höhen-verschobenen Stimmen, eingängigen Ohrwurm-Refrains und Instrumentalisierungen, die kaum noch an Instrumente erinnern. Die Beats sind hart und deutlich, wenn sie nicht in dissonanten Glitches verlaufen.

Hyperpop klingt häufig als wären sämtliche Regler eines typischen Pop-Tracks der 1990er oder 2000er auf Maximum gestellt worden, was das Mischprogramm stellenweise zur Aufgabe zwingt.

Bewusste Genre-Subversion

Doch diese oberflächliche Zufälligkeit erweist sich beim Hören bald als Farce. Zu flüssig sind die Übergänge, zu gut konstruiert der Songaufbau, zu einprägsam die Refrains. Hyperpop Musiker:innen wissen ganz genau, wie sie mit den Konventionen von Pop spielen, wie sie diese unterlaufen und nutzen können, um Tracks zu generieren, die zugleich eminent hörbar, aber auch stets innovativ und subversiv sind.

Charli XCX, die wohl bekannteste dem Genre zugeordnete Künstlerin, war unter anderem für den unvergesslichen Hook von Iggy Azaleas „Fancy“ verantwortlich bevor sie, produziert von A.G. Cook und SOPHIE, zur Hyperpop-Ikone wurde. Dorian Electra – eingangs erwähnt – wechselt Geschlechter- so einfach wie Genrescodes. Beim Duo 100 Gecs verschwimmen die Genre-Grenzen vollkommen. In Rina Siwayama ersteht eine frühe Britney Spears oder Christina Aguilera als Hyperpop Artist wieder auf. Und wer glaubt Rebecca Black habe nach der Häme rund um „Friday“ Autotune und Über-Produktion abgeschworen, den belehrte sie spätestens 2021 mit dem Hyperpop Remix zum zehnjährigen Bestehen des Songs des Gegenteils.

Kind des Internets

Rebecca Black ist eines der besten Beispiele dafür, wie eng Hyperpop und Internet zusammenhängen. Memes und Online-Diskurse ziehen sich durch Songtexte und Video-Ästhetiken von „Edgelords“ über Pepe-Frösche bis hin zu Troll-Gesichtern. Die Produzent:innen von Hyperpop sind jung, sie sind im Internet groß geworden, sind weltweit miteinander vernetzt.

Kollaborationen passieren ständig, alle bislang erwähnten Artists haben auf die eine oder andere Weise einmal miteinander gearbeitet, über Features, Remixes und Ko-Produktionen. Auf der anderen Seite sind auch die Fans online miteinander vernetzt und verbreiten die Songs über Tik Tok und Tumblr. Hyperpop wurde aus dem Internet geboren und formt dessen Kultur maßgeblich mit.

Von Queercore zu Hyperpop

Ich selbst bin über den Umweg des Genres Queercore zum Hyperpop gekommen. Queercore fing in den 1980ern als Punk Sub-Genre an und strahlte im Laufe der Jahrzehnte über Industrial, Garage Rock, Electropunk bis hin zu Dance Punk selbst in eine Reihe von Unterzweigen aus. Queercore lebte nicht zuletzt von einer aktiven Zine-Szene, von kleinen, selbstpublizierten Magazinen, in denen der politische und ideologische Unterbau des Musikgenres verhandelt wurde. Queercore war eine aktive Reaktion auf einen chauvinistischen, homophoben Punk-Mainstream, analog, parallel und oft in Überschneidung zu Riot Grrrl.

Kritik an Normativität

Trotz teils immenser stilistischer Unterschiede scheint mir mein Sprung von Queercore zu Hyperpop im Nachhinein betrachtet nur allzu logisch. Hyperpop lebt von derselben Punk/DIY Logik. Er ist eine Gegenbewegung zum Pop-Mainstream, den die Künstler:innen bewusst subvertieren und politisieren. Tumblr-Posts und Tik-Tok-Videos sind die Zines des Hyperpops. Hyperpop hat für mich etwas zu sagen, ästhetisch wie politisch.

Es rückt Themen aus der Nische ins Zentrum. Die Verfremdung von Stimmen, die allgegenwärtige Künstlichkeit erlaubt Experimente, erlaubt auch eine Nicht-Festlegung, ein Spiel mit Labels und Identitäten. Hyperpop ist camp, er ist theatralisch, er ist übertrieben. Er ist ernst in der Arbeit die dahintersteckt, in den Themen die er fundamental anspricht. Aber er nimmt sich selbst nicht ernst, jongliert stets mit einer leichten ironischen Brechung und entzieht sich einer letzten Determinierung.

Hyperpop ist nicht nur queer, weil er für queere Fans und Künstler:innen eine Nische bietet sich kreativ zu entfalten. Er ist nicht nur queer, weil er alte queere Ästhetiken wie Camp geschickt in einen modernen Kontext übersetzt. Hyperpop ist strukturelle und gelebte Kritik an einem normativen System, an der Vorschreibung es gäbe nur einen Weg zu leben, zu lieben und ja – Musik zu machen.

Titelbild: Symbolbild | © Jason Leung on unsplash.com