Sexuelle Übergriffe: Eine Geschichte von vielen

74 Prozent der Frauen und 27 Prozent der Männer in Österreich haben bereits sexuelle Belästigung erlebt. Das ist das Ergebnis einer Studie des Österreichischen Familieninstituts aus dem Jahr 2011. Ich gehöre zu den 74 Prozent und möchte das Schweigen brechen.

Ich veröffentliche hier eine meiner Geschichten, weil ich finde, wir müssen darüber reden, dass sexuelle Belästigungen und sexuelle Gewalt passieren und oft ohne Konsequenzen für die überwiegend männlichen Täter:innen bleibt. Zwei Redaktionsmitglieder haben sich mir angeschlossen und entschieden, auch ihre Geschichte(n) zu teilen.

Der Küsserkönig und ich

An diesem Tag bin ich gemeinsam mit meinem Kollegen Marco* unterwegs. Ich mache eine Lehre zur Rauchfangkehrerin und bin zu dem Zeitpunkt noch minderjährig. Marco ist Mitte 30, ungefähr gleich groß wie ich, aber deutlich stämmiger und stark tätowiert. In seinem silbernen VW Caddy mit Firmenaufschrift hängt ein Foto von seiner Frau und seinem kleinen Sohn.

Wir gehen auf das Haus unserer nächsten Kundschaft zu. Es ist weiß gestrichen, mit dunklen Fensterrahmen, der Vorgarten ist mit einem niedrigen Jägerzaun von der Straße abgetrennt. Unsere Kundschaft, ein älteres Ehepaar, reagiert auf mich, wie ich es gewohnt bin. „Eine junge Frau als Rauchfangkehrerin, wie toll!“, sagen sie überschwänglich, kaum dass ich den Vorraum ihres Hauses betrete. Das Flair der 70er Jahre haftet an jedem einzelnen Gegenstand im Raum, von dem mehrere Türen abgehen.

Der Mann hat eine Pfeife im Mundwinkel hängen und trägt ein weißes, geripptes Unterhemd. Seine Frau steht schräg hinter ihm in der Wohnzimmertür, aus dem das Ticken einer Uhr zu hören ist. Sie ist sehr dünn und ihre Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der genauso dünn ist. Marco erklärt den beiden, welche Überprüfungen wir bei ihrer Heizung durchführen werden. Plötzlich und ohne Vorwarnung, mitten im Gespräch, nimmt der Mann die Pfeife aus dem Mund, macht einen Schritt auf mich zu und drückt für einen kurzen Augenblick seine außergewöhnlich vollen Lippen auf meine.

Bevor ich reagieren kann, tut es seine Frau ihm gleich und gibt mir einen schnellen Kuss auf den Mund. Sie holen sich das Glück von mir ab, erklärt sie mir. Als Rauchfangkehrerin bin ich ja Glücksbringerin. Sie und ihr Mann wirken unbekümmert, ohne jedes Schuldbewusstsein ob der unangekündigten Küsse.

Es ist schwierig zu beschreiben, wie ich mich in dem Moment fühle, auf eine Art bin ich hilflos und kann nicht begreifen, dass ich gerade gegen meinen Willen von Fremden geküsst wurde. Ich ziehe meine Schutzmauer hoch und sage mir selbst, dass mich „sowas“ nicht aus der Bahn wirft, ich möchte taff wirken, nicht wie ein Opfer. Also überspiele ich mein Entsetzen und lächle.

Marco sagt nichts, er grinst nur und schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich sehe, dass er sich das Lachen verkneifen muss. Wir tun alle vier so, als ob nichts Ungewöhnliches passiert wäre. Als ich dann allein im Keller auf dem weißen Fliesenboden kniend den Ruß aus dem Kamin des Ehepaars in einen Kübel schaufle, rasen meine Gedanken. In meinem Kopf spielt sich die Szene immer und immer wieder von vorne ab. Panik kommt auf, die ich mit aller Macht unterdrücke und irgendwo tief in mir einsperre, damit sie ganz lange dort bleibt. Ich möchte kein Opfer sein, nicht zulassen, dass ich mich selbst als eines sehe.

Ungefähr drei Jahre später sitze ich mit meinen – durchwegs männlichen – Arbeitskollegen in unserem Aufenthaltsraum, Marco ist nicht dabei. Ein Kollege lässt das Stichwort „Küsserkönig“ fallen. So hat Marco den Mann nach dem ungewollten Kuss getauft und mich damit aufgezogen. Marco fand es lustig, mich in unterschiedlichen Situationen immer wieder an den Übergriff zu erinnern und sich darüber lustig zu machen. Vor allem, weil wir den Küsserkönig nach dem Übergriff noch zweimal im Ort gesehen haben. Ich habe es einfach hingenommen und Marco nie gesagt, ob ich das in Ordnung finde.

Also erzähle ich meinen Kollegen, umgeben von Werkzeugkoffern und gebrauchten Kaffeetassen, was damals passiert ist. Ich fasse die Geschichte in wenigen, nüchternen Sätzen zusammen, ein Schulterzucken schwingt in meinen Worten mit. Erich*, ein großer bäriger Mann, der mehr Bier als Wasser trinkt, sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht mehr vergessen werde. Er wirkt ehrlich betroffen. Als ich sage, dass Marco in der Situation reagieren und etwas sagen hätte müssen, vor allem, weil ich noch minderjährig war, stimmt Erich mir trotz seiner offensichtlichen Bestürzung nicht zu. Auch die anderen Kollegen schweigen.

Heute, fünf Jahre nach dem Übergriff, denke ich noch manchmal an den Kuss und bereue, dass das Ehepaar, dessen Namen ich nicht mal kenne, ohne Konsequenzen davongekommen ist. Niemand hat ihnen gesagt, dass das eine Straftat war. Niemand hat ihnen gesagt, dass ich das nicht wollte. Niemand hat ihnen gesagt, dass ich Narben davontragen werde. Mich ärgert, dass ich tief in mir drin lange das Ehepaar verteidigt habe, weil es „nur“ ein harmloser Kuss war. Dem ich zwar nicht zugestimmt habe, der aber auch nicht böse gemeint war.

Mit diesen Gedanken habe ich jahrelang gelebt und mich geschämt, weil ich von den Menschen, die in der Situation dabei waren und denen ich danach davon erzählt habe, nicht ernst genommen wurde. Ich habe mein eigenes Erleben verharmlost und erst langsam schaffe ich es, mich davon zu lösen und den Übergriff neu zu beurteilen.

Für mich selbst beruhigt mich das Wissen, dass ich mich heute gegen diesen sexuellen Übergriff wehren würde. Aber ich bin unglaublich wütend, dass in unserer Gesellschaft Verhalten wie das des Ehepaars einfach so geduldet wird, denn wir sind viele, die darunter leiden. Jeden Tag.

 *Name wurde geändert

– Mirjam Hangler

Vom (Ex-)-Freund vergewaltigt

Mein (Ex-)Freund hat mich vergewaltigt. Erst Jahre später hab ich das realisiert. Dass etwas nicht stimmt, das ahnte ich schon damals. Schließlich denkst du bei einvernehmlichem Sex nicht ständig „Nein, stopp, wann hört das endlich auf“ und versuchst krampfhaft Tränen zurückzuhalten. Oder blutest danach und hast tagelang Schmerzen. Aber Vergewaltigung? Das war immer ein ‚von einem Unbekannten hinter die Büsche gezerrt werden‘, nicht etwas, das auch in Beziehungen passieren kann.

Schließlich ist es doch meine Pflicht Sex zu haben und ich kann mittendrin nicht einfach Nein sagen und wenn ich jetzt wirklich was sage, wird er sicher wieder wütend und – Nein. Nein, nein, nein. Das weiß ich heute. Ich wünschte, ich hätte es damals schon gewusst. Schlussendlich ist die Beziehung auch daran zerbrochen. Das hab ich ebenfalls auch Jahre später begriffen. Dass das der Grund war, warum ich mich immer mehr zurückzog, mich immer weniger meldete, seinen Berührungen auswich.

– El(l)i

Es war doch nur Spaß

34 Jahre: Ein langjähriger Bekannter (Ende 40) war zu Besuch in meiner Wohnung. Er hat auf der Couch geschlafen. In einem Gespräch bei mir zu Hause sagte er zu mir, dass ich so süß sei und lächelte dabei erwartungsvoll. Ich habe mich dabei sehr unwohl gefühlt und den Kontakt abgebrochen.

33 Jahre: Eine Woche nach Beendigung einer Fortbildung habe ich von einem Mitarbeiter (55 Jahre) des Instituts eine WhatsApp-Nachricht erhalten, in denen er mir Komplimente zu meiner Person machte. Meine Handynummer hatte er sich von Kolleg:innen organisiert. Nach ein paar Tagen bekomme ich ungefragt ein Nacktfoto mit erigiertem Penis und der Nachricht, dass er an mich denkt. Ich habe ihm geantwortet, dass ich solche Nachrichten nicht will. Den Vorfall habe ich erst nach Monaten der Institutsleiterin in einem persönlichen Gespräch gemeldet, da ich Bedenken hatte, ob ich eventuell falsche Signale gesendet hatte? Erst nach langem Reflektieren und Rekonstruieren der gemeinsamen Situationen war ich mir sicher, dass ich keine eindeutigen Signale gesendet habe.

29 Jahre: Berlin. Ich saß auf einer öffentlichen Bank auf einem gut besuchten Platz. Auf einmal kam ein Mann auf mich zu, stellte sich sehr knapp vor mich hin und holte seinen Penis raus und hielt ihn mir vor mein Gesicht. Ich war in diesem Moment schockiert, stand auf und suchte das Weite.

20 Jahre: Ich war mit Arbeitskolleg:innen im Ausland bei einem Event. Da haben wir abends in einem Club gefeiert und Alkohol getrunken. Ich war betrunken und im Taxi auf der Fahrt ins Hotel hat mich ein Kollege (45+) vor einem anderen Kollegen ungebeten geküsst. Ich fühlte mich danach sehr schlecht und habe mich gefragt, ob ich selbst schuld war, weil ich betrunken war.

19 Jahre: Beim Sex in einer damaligen Beziehung wollte mein damaliger Partner etwas Neues ausprobieren, das ich jedoch nicht wollte. Und er bestand darauf und sagte: “Tu es für uns!”

18 Jahre: Ein Vorgesetzter (Mitte 40) schlug mir auf den Hintern und lachte dabei. Dies geschah, als ich über den Tisch gebeugt nach einem Dokument gegriffen habe. Am nächsten Tag habe ich diesen Vorfall angesprochen und gesagt, dass ich das nicht will. Seine Antwort war: „Es war doch nur ein Spaß!“

– Alle Erlebnisse von weiblich, 35 Jahre

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