Magdas Leben ohne Sex

Es wird viel über Sex gesprochen, aber wenig darüber, was ist, wenn man keinen Sex haben möchte. Magda ist asexuell. Wie hat sie das herausgefunden? Und was ist Asexualität überhaupt?

Der Astronaut ist schon halb zu sehen, Magda passt das nächste Puzzlestück ein und scannt hochkonzentriert die restlichen Teile, die auf dem Boden liegen. Am Bett hinter ihr sitzt ihr Freund. Er möchte, dass sie ins Bett kommt und sich zu ihm auf die weiße Tagesdecke legt. Magda konzentriert sich nur noch mehr darauf, das fehlende Teil vom Astronautenhelm zu finden. Sie weiß, wenn sie zu ihrem Freund schaut, schafft sie es nicht, hart zu bleiben. Dann wird sie sich zu ihm legen und sie werden Sex haben. Das möchte sie nicht. Schließlich gibt sie doch nach und legt sich zu ihm ins Bett. Den Sex genießt Magda nicht. 

Das ist drei Jahre her. Heute ist sie 22 Jahre alt, lebt über 300 Kilometer von ihrer Familie entfernt in Bayern, besitzt eine riesige Strumpfhosensammlung und mag keinen Sex. Magda ist asexuell.

Kein Sex mit anderen

“Asexualität bezeichnet das Fehlen […] eines Verlangens nach sexueller Interaktion bzw. das nichtempfinden [sic!] sexueller Anziehung.” Das steht auf der Website von AVEN, dem größten internationalen Netzwerk für Asexuelle, das 2001 gegründet wurde. Asexualität hat aber viele Ausprägungen und kann ganz unterschiedlich gelebt werden. Manche haben Sex, obwohl sie keine sexuelle Lust verspüren.

Andere fühlen sich manchmal sexuell erregt und möchten trotzdem keinen Sex mit einer anderen Person haben. Es gibt keine objektiven Kriterien, die jemand erfüllen muss, damit er:sie sich als asexuell definieren darf. Deshalb ist Asexualität genauso vielfältig wie die Asexuellen selbst, die laut dem Forscher Anthony Bogaert ungefähr ein Prozent der Bevölkerung ausmachen. 

Sex ≠ Sex

Wenn Asexuelle kein Verlangen nach sexueller Interaktion verspüren, stellt sich zwangsläufig die Frage, was Sex überhaupt ist. “Ich glaube, dass es gesellschaftlich ein falsches Bild von Sexualität gibt”, sagt Cornelia Lindner, sie ist Sozialarbeiterin und Sexualpädagogin. “Wir gehen in unserer Gesellschaft ganz oft vom heterosexuellen binären Geschlechtsverkehr aus, der immer Vagina und Penis beinhaltet.”

Für viele Menschen ist Sex aber viel mehr als nur das – oder etwas ganz anderes. Magda definiert Sex als alles, was mit den Geschlechtsteilen zu tun hat. Sie findet es okay, sich selbst zu berühren, aber dass jemand anderes ihre Vulva berührt, fühlt sich unangenehm an. Genauso wie sie es nicht mag, die Geschlechtsteile von anderen Personen anzufassen. Küssen und Kuscheln hingegen genießt sie sehr.

Grausexuell oder asexuell?

Magda hatte noch nie wirklich Lust auf Sex, aber erst mit 20 hat sie einen Namen für dieses Gefühl gefunden. Auf Instagram stolperte sie über das asexuelle Spektrum und fühlte sich zum ersten Mal mit ihren Gefühlen gesehen. Das Spektrum umfasst mehrere verschiedene Sexualitäten, die definieren, dass Menschen nur manchmal oder nie Sex haben möchten. Am Anfang fand sie das Label “grausexuell” für sich passend.

Grausexuell bedeutet, dass man nur manchmal unter bestimmten Voraussetzungen sexuelle Anziehung verspürt. “Irgendwas in mir hat sich noch geweigert, dass ich das Asexuelle annehme für mich”, sagt Magda. Je mehr sie sich jedoch über Asexualität informiert hat, desto klarer war für sie: “Das einzige, das mich davon abhält, dass ich mich asexuell nenne, ist, dass ich mich in unserer Gesellschaft, die so sexfixiert ist, nicht als asexuell bezeichnen möchte.” 

“Das bin ich”

Magda und ihr Onkel sitzen nebeneinander auf der Terrasse und trinken Kinderpunsch. Gemeinsam schauen sie in die Nacht und reden über alles und nichts und irgendwann auch über Beziehungen. Ganz spontan entscheidet Magda, sich zu outen: “Ich bin asexuell.” Manchmal folgen diesem Satz Unverständnis und Nachfragen. Diesmal nicht. Magdas Onkel nippt am Kinderpunsch und sagt in den dunklen Garten hinaus: “Du verstehst schon mehr von deiner Sexualität als ich von meiner.”

Für Magdas Eltern war es schwerer zu verstehen, dass sie keinen Sex möchte. “Vielleicht hast du nur noch nicht die richtige Person gefunden”, hat ihre Mutter zu ihr gesagt. Magda war verletzt von dieser Aussage, aber sie hat versucht, ihrer Mutter zu erklären, wieso. “Meine sexuelle Orientierung ist nicht von einer anderen Person abhängig, das bin ICH.” Durch die Gespräche mit Magda verstehen ihre Eltern Asexualität immer besser und hören Magda zu, wenn sie über ihre Gefühle spricht.

Magda | © privat

Lustgefühle

“Wir sterben nicht, wenn wir keinen Sex mit anderen Menschen haben. Deshalb ist es auch kein körperliches Grundbedürfnis”, erklärt Cornelia Lindner. Aber Menschen werden grundsätzlich als sexuelle Wesen geboren und auch Asexuelle können ein sexuelles Lustgefühl spüren. “Sex haben, egal ob mit wem anderen oder mit sich selber, hat verschiedene Funktionen”, sagt Cornelia Lindner.

Manche Menschen haben Sex, weil es ihnen Spaß macht, oder sie das Lustgefühl angenehm finden. Es gibt aber auch Menschen, die Sex dafür nutzen, um von der Anspannung in die Entspannung zu kommen. “Wenn man Sexualität als größeren Begriff sieht, dann ist es für Menschen, die sagen, sie leben asexuell, vielleicht doch nicht so eindeutig, dass sie asexuell sind”, sagt Cornelia Lindner. 

Wenn “das Ding” wieder da ist

Magda hat manchmal Solo-Sex, wenn “das Ding” wieder da ist. So nennt sie das, was Cornelia Lindner vielleicht als Lustgefühl beschreiben würde. Für Magda ist das nicht angenehm. Solo-Sex ist eine Pflicht, die sie erledigen muss, damit das lästige Gefühl weggeht. Darauf hat sie nicht wirklich Lust. “Ich finde ja nichts sexuell erregend von anderen Personen.” Deshalb schaut sie keine Pornos und auch Kopfkino fällt ihr schwer. Sie kennt Sex aus Büchern und Filmen und stellt sich vor, dass so Sex sein könnte. Das Kopfkino hält aber nie lange, “weil es nichts ist, womit ich mich identifizieren kann”, erklärt sie.

Beziehung ohne Sex?

Im Moment lebt Magda alleine, sie wünscht sich aber eine:n Partner:in. Aus heutiger Sicht möchte sie mit ihrem:ihrer zukünftigen Partner:in keinen Sex haben. “Gesellschaftlich wird aber vermittelt, dass Sex so wichtig in einer romantischen Beziehung ist und dass es ohne nicht geht”, sagt sie. Deshalb ist sie unsicher, wie eine zukünftige Beziehung aussehen könnte, ohne dass sie oder ihr:e Partner:in unglücklich mit dem Sexleben sind.

Cornelia Lindner glaubt nicht, dass Asexualität pauschal ein Hindernis bei der Partner:innensuche ist. Sie versteht aber, dass sich Asexuelle Sorgen machen, keine:n Partner:in zu finden, “weil Sex immer so als das Nonplusultra gesehen wird, das so viel Stress und Druck auslöst.” Sie findet, das wichtigste in jeder Beziehung ist, dass die Paare in sich hineinspüren können, was sie möchten und darüber reden. “Dann findet man gemeinsam einen Weg”, sagt die Sexualpädagogin. Und Magda wird ihren Weg finden, egal ob mit Partner:in oder ohne. Denn: “Ich habe das für mich jetzt einfach so akzeptiert, dass ich asexuell bin”, sagt sie.

Titelbild: Magda am Meer | © Mirjam Hangler