Im Scheinwerferlicht

Seit zehn Jahren lebt Daniel Massow in Wien und arbeitet hauptberuflich in einer betreuten Wohneinrichtung – als Daniel Damendarstellerin zieht sie auf der Bühne alle Blicke auf sich. Auch Chica Chicago geht neben ihrem Studium ihrer extravaganten Passion nach: Drag. 

Daniels Finger öffnen die Schnalle des schwarzen Schminkkoffers, die blau lackierten Fingernägel blitzen im Schatten des grellen Lichts hervor. Sie fischt aus dem Koffer ein Gloss und pinselt es auf ihre trockenen Lippen. Daniel presst sie aufeinander, sodass das klare Gloss mit den Lippen verschmilzt. Sie zückt eine Zigarette, steckt sie zwischen ihre glossierten Lippen.

Während sie die Zigarette wieder an ihrem Aschenbecher befestigt, klackert der silberglänzende Schmuck, der auf beiden Handgelenken auf und ab rutscht. Mit einem pinken Make-up-Schwämmchen trägt Daniel die beigefarbene Creme auf Stirn, Nase, und die oberen Wangen – die Teile ihres Gesichts, die nicht von ihrem Bart bedeckt sind.

Daniel Damendarstellerin beim Schminken| © Helene Purt

Daniel Damendarstellerin zog es vor ungefähr zehn Jahren nach Österreich. Davor absolvierte er in Kassel ein Kunststudium und lernte bei einem Auslandssemester in Istanbul zwei Österreicher:innen kennen, gründete eine Künstler:innengruppe in Wien, und nachdem sie sich auflöste, blieb er hier. Seine Kunstaffinität lebt er als seither als Drag Queen aus. „Auf der Bühne tanze und singe ich, man kann mich aber auch als Moderatorin buchen.“ Es sind Sängerinnen wie Marlene Dietrich oder Hildegard Knef, die ihn inspirieren.

Seitdem er in Wien ist, arbeitet Daniel im sozial betreuten Wohnen für ehemalige obdachlose Menschen. Zu seinen Aufgabenbereichen zählt es, in Notfällen die Rettung oder Polizei zu rufen, nicht aber, Bedürftige längerfristig zu betreuen. „Ich bin nur für den Moment da.“ Um seine Kenntnisse in diesem Bereich zu erweitern, studiert er berufsbegleitend Soziale Arbeit. 

„Darling, can’t you hear me S.O.S.”

Daniel greift zur halboffenen Prosecco-Flasche und füllt ihr Sektglas nach. Sie nimmt einen Schluck von der perlenden Flüssigkeit, während sie in den Spiegel linst. Mit einem pinselartigen Stift zeichnet sie einen schwarzen Strich auf ihr blau betupftes Augenlid. Daniel fischt aus einem Plastikbehälter zentimeterlange falsche Wimpern, die sie ohne Mühe – aber mit Pinzette – über ihren natürlichen Wimpernkranz klebt.

Als letzten Schritt bedeckt sie ihre Glatze mit einem Turban, ergänzt durch ein aus Müllsäcken entworfenes Kleid, das heute als Perücke fungieren soll. Sie äschert von ihrer Zigarette ab und nimmt einen letzten Zug, bevor sie den Stummel im Aschenbecher zerdrückt. 

Eines seiner Talente ist es, aus Müllsäcken wunderschöne Kleider zu kreieren. Daniel greift auf das Upcycling von Müllsäcken zurück, da die schlechte Bezahlung von Drag in Österreich ein strukturelles Problem ist, das auch ihn betrifft. „Mehr ist im Budget nicht drin!“, sagt Daniel. Er zerschneidet Plastikbeutel und verwendet Gaffa-Tape als Zwirnersatz, um sie zu Outfits zusammenzufügen.

Daniel auf der Bühne | © Mercan Sümbültepe

Im Wohnzimmer hat sich Daniel heute ihre Bühne eingerichtet. Tücher, die den Rest des Raums verstecken und ein Spiegel sind Teil der Kulisse, in der sie performen wird. Publikum ist diesmal jedoch nur das Smartphone, zumindest bis der Auftritt am virtuellen Ball der Gefühle ausgestrahlt wird. Ein buntes Event, bei dem Menschen ihre Vielfalt feiern und Darstellungskünstler:innen unterhalten und begeistern.

Daniel setzt sich hinter den Tisch, auf dem sie ihr Handy als Kamera montiert hat. Aus dem Lautsprecher ertönt das Instrumental des ABBA-Songs „S.O.S.“ – gespielt von einem Organisten, den Daniel auf YouTube gefunden hat. Das Video soll ein One-Take werden, deshalb möchte sie keine Fehler machen. Zu ihrer klingenden, tiefen Stimme spielt sie mit ihren Gesichtsausdrücken und bewegt sinnlich ihre Hände. Die selbstgeschriebene Strophe wird Daniel zum Stolperstein: Sie vergisst ein Wort und verliert den Faden. Die Orgelmusik verstummt und Alles zurück auf Anfang.

Queer und bunt

Als mentale Unterstützung ist heute auch Chica Chicago vor Ort. Er ist Mitgründer des „Haus of Rausch“, dem Künstler:innenkollektiv, das den Ball der Gefühle organisiert. Die Idee zum Event kam dadurch, dass Chica und Co-Initiatorin Susie Flowers für Menschen eine Veranstaltung machen wollten, bei der man zu der besten Musik der letzten 100 Jahre feiern kann.

Die ersten Events waren Partys ohne Performances, die mit der Zeit auf immer größere Resonanz stießen. „Einfach weil es queer war, weil es bunt war.“ So wurde der Gedanke geboren, einen Ball der Gefühle zu veranstalten – und zwar im Marea Alta, einer Bar in Wien. Auf den Vorschlag des Besitzers hin wurde begonnen, auf der Bühne zu performen. „Das Wichtige für uns war die starke Diversität.“ Die Teilnehmer:innen sind männlich, weiblich und alles dazwischen. „Es soll dieses Auf und Ab in alle Richtungen darstellen“, sagt Chica. 

Chica Chicago | © Chica Chicago

Chica begann im Kindesalter, sich mit seiner Schwester zu schminken und außergewöhnliche Kleidung anzuziehen. „Sie ist Textildesignerin geworden, ich habe eine Tanzausbildung gemacht.“ In seinen Performances verarbeitet Chica Informationen über Themen, die ihn packen. „Dinosaurier zum Beispiel, da hast du mich sofort.“ Als eine seiner größten Inspirationsquellen sieht Chica das Lesen von Wikipedia-Artikeln, zuletzt einen über Glanz. „Dann schießen mir hundert Assoziationen ein, die mir die Kraft und Inspiration für die Bühne geben.“

Wenn er nicht an ihrer Kunst tüftelt, arbeitet Chica zehn Stunden in der Woche in einer Ordination als Reinigungskraft. Dafür bekommt er gerade genug Geld, um Miete und Versicherung zu zahlen. Neben seinem fast abgeschlossenen Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft begann Chica im letzten Semester an der Akademie der bildenden Künste zu studieren.

Als Fach wählte er Performance Art – passend zu seiner Leidenschaft – Drag. Seinen Darstellungsstil beschreibt Chica als „ein Potpourri an bunten Farben und schrägen Ideen“, er singt und tanzt, kreiert Handpuppen und zeigt sich auch ab und zu vollkommen nackt auf der Bühne.

Geschlecht als gesellschaftliches Konstrukt

Beim virtuellen Ball der Gefühle schlüpft Chica in die Rolle einer Trollfrau. Sie stapft mit ihren weißen Stiefeln tänzerisch durch den mit Schnee bedeckten Wald. Unter bunten Stofffetzen guckt ein neongrüner Tüllrock hervor. Die Trollfrau schwingt ihre langen, dunkelgrünen Haare und blickt mit einem hämischen Grinsen hektisch um sich. Ihre Zunge schleckt über ihr spitzen Zähne, während ihre langen, schwarzen Fingernägel durch die wellige Perücke fahren. Die märchenhafte, aber doch spitzbübische Musik untermalt das freche Gemüt. In der Nahaufnahme sieht man, wie viel Mühe und Aufwand Chica in das künstlerische Make-up steckt, das sie unkenntlich macht.

Chica auf der Bühne | © Chica Chicago

Daniel und Chica identifizieren sich beide als gender-fluid oder gender-queer, jedenfalls nicht binär. Das Problem als Cis-Mann identifiziert zu werden, trifft Daniel in allen Lebensbereichen, in denen er nicht als Damendarstellerin auftritt. „Im Studium korrigiere ich oft meine Kolleg:innen oder Vortragenden, da ich mich dort in einem geschützten Raum befinde, in dem ich vertrauen kann“, erklärt Daniel. In seinem Beruf als Sozialarbeiter verzichtet er hingegen darauf, Klient:innen zu berichtigten.

Das Geschlecht sei schließlich ein gesellschaftliches Konstrukt, in das jeder Mensch eingeordnet werde. „Je nachdem wie man gelesen wird, gibt es eine gesellschaftliche Zuschreibung“, meint Daniel. Typisch weibliche oder männliche Stereotypen betreffen alle Menschen – ob non-binär oder binär. „Für mich gibt’s für jeden Menschen ein eigenes biologisches Geschlecht, weil wir uns alle unterscheiden“, sagt Chica.

Titelbild: Daniel Damendarstellerin | © Helene Purt