“Natürlich hab ich einen Shitstorm abbekommen. Meine Verwandten haben mich angerufen und gefragt, warum ich nicht mehr zu den Versammlungen komme. Ich habe ihnen nicht gesagt, dass ich schwul bin, aber dass ich lieber in der “Welt” leben möchte und somit in Kaufe nehme, dass ich vernichtet werde. Das war meine erste ungehorsame Phase. Vom braven Jungen – das predigende Kind im Anzug – hin zum Rebellen”, fasst Noa seine Entscheidung, den Zeugen Jehovas seinen Rücken zu kehren, zusammen.
Zwei ehemalige Zeugen Jehovas und Christiane K. vom Verein JZ help haben mit mir über ihre Erfahrungen mit den Zeugen Jehovas, ihren Umgang mit Homosexualität und wie dieser zu ernsten psychischen Problemen führen kann gesprochen.
Die Zeugen Jehovas
Seit dem Jahr 1911 gibt es die Zeugen Jehovas in Österreich mit derzeit 21.768 aktiven Zeug:innen, seit dreizehn Jahren sind sie als Religionsgemeinschaft gesetzlich anerkannt. Geleitet werden die Zeugen Jehovas von acht Männern in Warwick, USA und dazugehörigen Zweigkomitees, die weltweit verteilt sind.
Noa und Lea*
Beide sind Ex-Zeug:innen und homosexuell. Lea ist geoutet, Noa teilweise. Beide haben unter der Ablehnung von Homosexualität bei den Zeugen Jehovas gelitten. Noa (29, ungetauft) kehrte in seiner Jugend der Religion seinen Rücken zu. Auch Lea ( 32, getauft) hat sich Anfang zwanzig für einen Ausstieg entschieden.
Gottes Krieg
Es ist der Glaube an Jehova (Gott), seinen Sohn Jesus und den Heiligen Geist, der die Zeug:innen leitet und auf den großen, weltweiten Krieg Gottes vorbereitet. Es soll alles Böse vernichtet werden und ausgewählte gottesfürchtige 144.000 Zeug:innen gemeinsam mit Gott im Himmel regieren, während alle anderen würdigen Menschen in einem Paradies auf der Erde leben sollen. Strenge Zeugen vermeiden enge Kontakte außerhalb der Glaubensgemeinschaft, um dadurch nicht zum Bösen verleitet zu werden. Denn die “Welt” und ihr Einfluss werden als etwas Gefährliches wahrgenommen, hinter jeder noch so netten Person könnte sich Satan verstecken und sie zur Sünde sowie zum schlechten Lebenswandel, wie zum Beispiel zur Homosexualtiät, verleiten.
Die Homosexualität
“Homosexuelle Handlungen werden als falsch angesehen. Die Zeugen Jehovas begründen das biblisch, wie andere Religionen und Sekten auch. Den Menschen verurteilen sie nach offiziellen Angaben jedoch nicht”, ist der Eindruck der JZ Help-Beraterin Christiane K. In der Gemeinschaft kann Homosexualität jedoch nicht gelebt werden: “Die homosexuelle Person hat enthaltsam oder hetero zu leben. Mit viel Gebet und Ablenkung soll es trotzdem möglich sein, glücklich zu leben, ähnlich wie Süchtige lernen können abstinent zu bleiben”, erinnert sich Christiane an ihre Wahrnehmung aus der gelebten Praxis bei den Zeugen Jehovas.
In einem Statement lässt Gary Breaux aus dem Dienstkomitee hinter den Vorhang blicken: “Satan führt Krieg, um das Denken der Menschen in Bezug auf Homosexualität zu verunreinigen … Homosexualität ist unheilig und widerwärtig für Jehova, und er wird dies unter seinen ergebenen Dienern nicht tolerieren. Bewegt dich deine Liebe zu Jehova dazu, die gleiche Sichtweise zu vertreten?“
Christiane K. ist ehrenamtlich für den Verein JZ Help für den organisatorischen Part in Österreich zuständig und leitet ebendort eine Selbsthilfegruppe. Der Verein setzt sich für Aufklärungsarbeit und Unterstützung und Beratung für Betroffene im DACH-Raum sowie Italien ein.
Leas Suizidgedanken und Burn Out
Lea wurde in die Religion hineingeboren und nahm, nach ihren Angaben nach den Glauben sehr ernst. “Es war für mich einerseits schöne Anerkennung in der Gemeinschaft, die wie Verwandte für mich waren, zu bekommen”, reflektiert Lea und gräbt weiter in ihren Erinnerungen. “Ich habe das hauptsächlich gemacht, um den Menschen in meinem Umfeld zu gefallen. Als Teenager hatte ich immer mehr das Gefühl, dass einfach mit mir etwas nicht stimmt und ich einfach zu schlecht bin.”
Dieses ständige Bemühen jemand anderes zu sein, der interne Leistungsdruck und die vielen Selbstvorwürfe haben bei Lea zu einer Essstörung und zu Suizidgedanken geführt und sie schließlich ins Burnout getrieben. Dadurch gelang ihr schließlich der Ausstieg aus der Zeugenwelt. “Ich war ja selber der Überzeugung, dass lesbisch sein eine schwere Sünde ist, also habe ich das verdrängt”, berichtet die Ex-Zeugin mit fester Stimme. Mit dreizehn hat sie gewusst, sie wolle weder heiraten noch einem Mann näher kommen. Erklären konnte sie sich dieses Empfinden damals jedoch nicht. Denn Lea hatte ein gegenteilige Wahrnehmung der Gefühle von Verliebt sein und freundschaftlicher Zuneigung: „Ich war in einen Typen verliebt und hatte für meine beste Freundin freundschaftliche Gefühle. Obwohl es genau umgekehrt war. Ich hatte keine Ahnung, wie sich diese Gefühle wirklich anfühlen.”
Noas Suizidgedanken und Krankheit
Noa wurde wie Lea hineingeboren und mit den Sichtweisen der Zeugen Jehova indoktriniert: “Wenn du deine ganze Kindheit hörst, die Welt ist schlecht, bekommst du teilweise Angst vor dieser Welt und du glaubst das auch – einfach, weil du nichts anderes kennst.” So wuchs er auch mit dem Glauben, dass Homosexualität Sünde ist, auf. “Für mich war das Wort schwul extrem schlimm. Ich konnte das Wort gar nicht in den Mund nehmen. Und ich musste es lernen, dass schwul kein Schimpfwort ist.”
Etwas das auch außerhalb des Zeugen Jehovas-Kontext nach wie vor ein großes gesellschaftliches Thema ist. “Heute finde ich alles sehr absurd”, betont Noa. Anders sah es in seiner Kindheit und Jugend aus, seine Homosexualität sowie seine serbischen Wurzeln ließen ihn “anders” fühlen: “Deine Gedanken drehen sich darum, warum bin ich nicht gut genug, warum fühle ich so? Es fühlt sich besser an zu sterben, als das zu fühlen.” Als er neunzehn Jahre alt war, erkrankte sein Vater schwer und war fünf Jahre lang ein Pflegefall. Er zog wieder zuhause ein und unterstützte seine Mutter bei der Pflege seines Vaters bis dieser starb. Danach erkrankte er selbst an einer Autoimmunerkrankung, so schwer, dass er sogar wieder gehen lernen musste.
Noas Suizidgedanken wurden immer stärker, bis diese nicht mehr auszuhalten waren: “Ich habe mich immer so schlecht gefühlt, weil ich so eine schwere Last in mir hatte und ich mich nicht wirklich jemandem öffnen konnte, wegen der Angst verstoßen zu werden.”
Fakt: Homophobie bei den Zeugen
Im Kapitel 28 “Was, wenn ich homosexuelle Gefühle habe?” im Band 2 des Jugendbuchs der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas wird verdeutlicht: “Homosexualität wird heute von vielen verharmlost – sogar von einigen Geistlichen. Gottes Wort, die Bibel, drückt sich dagegen klar und deutlich aus: Jehova hat Mann und Frau geschaffen, und er hat vorgesehen, dass die Sexualität nur zwischen Ehemann und Ehefrau ausgelebt wird (1. Mose 1:27, 28; 2:24). Daher ist es nur logisch, dass die Bibel homosexuelle Handlungen verurteilt (Römer 1:26, 27).“
Weiters wird in diesem Kapitel an die Jugendlichen appeliert: “Wenn du dich ab und zu für das eigene Geschlecht interessierst, bedeutet das noch lange nicht, dass du schwul oder lesbisch bist. Solche Neigungen geben sich gewöhnlich mit der Zeit. Jetzt ist erst mal wichtig, dass du dich nicht in homosexuelle Handlungen hineinziehen lässt. Wie kannst du das schaffen?”
Die Antworten sind: Rede mit Jehova, denke viel über Positives nach und meide Pornografie und homosexuelle Propaganda. So steht auch geschrieben: “Die Bibel versichert uns aber, dass man sich ändern kann. Sie berichtet von Personen, die Homosexualität praktiziert haben, sich dann aber änderten und Christen wurden (1. Korinther 6:9-11). Daran siehst du, dass auch du deinen inneren Kampf gewinnen kannst.” Diese Zitate illustrieren zweifelsohne die homophobe Haltung der Religionsgemeinschaft.
Indoktrination
Es wird innerhalb der Religion extremer psychischer Druck auf die homosexuellen Mitglieder:innen ausgeübt. Oft werden schon Kindern negative Einstellungen gegenüber Homosexuellen vermittelt, bis sie in die eigenen Denkmuster übergehen. Nach Christiane K.’s Eindruck ist die Botschaft: “Homosexuelle kommen nicht ins Paradies, sondern werden in Armageddon vernichtet.”
Das führt dazu, dass sich Betroffene als schlecht, verabscheuungswürdig empfinden und denken, sie hätten die Vernichtung verdient. “Extremer Selbsthass durch Schuldgefühle ist nicht selten die Folge, viel zu oft gepaart mit selbstverletzenden Handlungsweisen”, weiß die ehrenamtliche JZ Help Mitarbeiterin aus ihren Beratungsgesprächen. Auch die Angst vor einem Ausschluss und infolgedessen Kontaktabbruch zur Familie und Freund:innen ist immens. Diese Kombination kann zu schweren psychischen Folgen wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen und bis hin zu Suizidalität führen.
Aufbruch
Der Ausschluss oder freiwillige Ausstieg bedeutet in der Regel, dass kein Kontakt mehr zur Familie und zur Gemeinschaft gepflegt wird. Auch psychisches Leid geht damit einher. So wird berichtet, dass der Tod von Angehörigen leichter zu verkraften wäre, als ein Ausstieg. Christiane K. erläutert, dass “dieser Kontaktabbruch als liebevolle Zuchtmaßnahme angesehen wird, um den:diejenigen zurück zu bringen. Die aktiven Zeugen meinen das gar nicht böse. Die trauern selber um die:denjenigen die:der gegangen ist und das ist auch für sie ganz schlimm zu verkraften.”
Bei Lea hat der Prozess bis zum offiziellen Ausstieg mehrere Jahre gedauert, sie führte ein Doppelleben: Eines bei den Zeugen und eines “außen”, wie sie selbst sagt und “es ist ein langer Prozess bis man bereit ist, die Entscheidung zu treffen und dann geht’s meistens schnell.” Seit dem Austritt vor 10 Jahren hat Lea keinen Kontakt mehr zur ihrer Familie.
Zuversicht
“Viele Aussteiger:innen berichteten uns schon, dass es teilweise Jahre nach ihrem Ausstieg gedauert hat, bis sie diesbezüglich zu sich selbst finden konnten – und sehr spät dann doch noch kennenlernen durften was Liebe und Glück bedeuten und, dass das auch für sie möglich ist”, so Christiane K.
Teilweise erwischt sich Noa noch, wie ein Zeuge zu denken. Und fragt sich dann: “Wie denkt der echte Noa darüber?” Weiters berichtet er mit Freude: “Ich muss ehrlich sagen, ich lerne mich total neu kennen. Es kommt eine andere Person raus. Und das fühlt sich sehr gut an.” Noa erinnert sich, dass er sich sein Leben als Kind ganz anders vorgestellt hat: Verheiratet, Haus, Kinder. “Dem war nicht so, weil ich mich anders gefühlt habe und die Kraft meinen Weg zu gehen, gehabt habe. Und Nein zu den Zeugen Jehovas zu sagen.”
Seit zwei Jahren ist er in Psychotherapie. Und auf Instagram komplett offen mit der Absicht, sein wahres Ich nicht mehr zu verstecken. Lea beschreibt sich heute als glücklich. Es war jedoch ein langer Weg dorthin. Wenn Lea über den Prozess des Ausstiegs und des Sich-Neu-Findens spricht, betont sie, “es ist möglich, ganz viel im Leben zu entdecken, zu erleben und positive Gefühle wirklich zu spüren. Ich denke da jetzt zum Beispiel an Freiheit, wo ich erst später wusste, wie sich das wirklich anfühlt.”
*Beide Interviewpersonen wurden anonymisiert.
Titelbild: Symbolbild | © Pedro Lima on unsplash.com
als Grenzgängerin zwischen digital und analog, gilt ihre Leidenschaft seit vielen Jahren der Content Creation. Am liebsten kreiert Ruperta Text und Bild, die einen Mehrwert haben. Oder ästhetisch sind. Und bewegen. Auch strategisch mischt sie gerne auf, ob als Chefredakteurin oder als zukünftige Entrepreneurin. Als Kind der späten 80er ist sie jung auf den Geschmack des Reisens gekommen. Und liebt es noch immer. So sehr, dass ihr die Ortsunabhängigkeit besonders wichtig ist, hätte da nicht eine Liebe namens Wien dazwischen gefunkt. (Foto: privat)