Tip the ivy!

Colin Self und ich sind in seiner Wohnung in der Karl-Marx-Allee in Berlin zur Suppe verabredet. Ich kenne Colins Arbeit aus unterschiedlichsten Zusammenhängen, wie einer gemeinsamen Arbeit mit Liz Rosenfeld in der Berlinischen Galerie über Cruising, unterschiedlichen zeitgenössischen Tanzprojekten, aber auch von Konzerten mit Holly Herndon. Wir essen mit spektakulärem Ausblick auf die DDR-Prachtbauten im stalinistisch-neoklassizistischen Stil, und unterbrechen unser Interview mehrfach um historische Travestie-Aufnahmen auf Youtube zu schauen und Campari Spritz nachzufüllen. 

Colin, du arbeitest künstlerisch in den Bereichen Musik, Performance und Tanz und lebst derzeit in Berlin. Was hat dich in die Steiermark verschlagen?

Colin Self: Cathrin Mayer, Kuratorin an der Halle für Kunst, Steiermark, hat mich zu einer Residenz nach Graz eingeladen, wo ich im April diesen Jahres ein paar Wochen verbracht habe. Meine Recherchen in Graz werden im Januar nächsten Jahres in einer Performance und möglicherweise auch einer Ausstellung resultieren. Ich beschäftige mich dafür mit Polari, queerer Kriminalität und verschlüsselter Sprache. Heute, wo wir ständig aufgefordert werden, zu definieren und zu benennen, wer und was wir sind, suche ich nach Wegen, wie wir unlesbar bleiben können.

Was ist Polari?

Polari ist eine „criminal queer language“, die aus Elementen unterschiedlicher Sprachen besteht: Romani, Theaterjargon, Gauner- und Matrosensprachen sowie klassischer queerer Slang. Polari gewann im 20. Jahrhundert in Großbritannien an Bedeutung, zu einer Zeit, als Queer-Sein und queere Akte höchst strafbar waren. In queeren Räumen und in jenen seltsamen Zwischenräumen, in denen Cruising möglich war, wurde Polari zu einer Überlebensstrategie und einer Möglichkeit mit anderen Queers in Kontakt zu treten. 

Hast du ein Lieblingswort in Polari?

Mein Lieblingsausdruck ist tip the ivy, das Efeu anstoßen, was nach einer wunderschönen Sache klingt. Polari ist sehr bilderreich. Der Ausdruck bedeutet Oralsex zu machen. Es gibt darüber hinaus auf Polari sehr viele Begriffe für Polizei, weil ja im Grunde schon deine bloße Existenz ein Verbrechen war. Polizei nannte man Hildegard Handcuffs oder Jennifer Justice. 

Österreich ist ja eines der fortschrittlichsten Länder Europas was die Dekriminalisierung queerer Lebensformen angeht. Und in vielen anderen Ländern steht die Legalisierung queerer Lebensweisen immer noch im Zentrum des Aktivismus. Warum also heute so etwas wie queere Kriminalität zurückbringen?

Erstmal glaube ich gar nicht, dass das eine Frage ist, die sich im Rahmen von Nationalstaatsgrenzen so einfach beantworten lässt. Sobald man die Großstädte und Metropolen verlässt, kommt man ja schnell an Orte, wo das Überleben von Queers und Transpersonen gar nicht selbstverständlich ist, wo es eben möglicherweise gar keine Sprache für romantische oder sexuelle Beziehungen mit anderen Queers und für ein bedeutungsvolles Leben unterschiedlichster Formen von Queerness gibt. 

Mein Interesse an queerer Kriminalität rührt von einem Widerstand gegen die kommerzialisierte Form von Queer her, die mir in den sozialen Medien begegnet. Ich möchte den Geist von queerer Kriminalität wieder erwecken, eine Form von Radikalität, die stört und störrisch ist und nicht an Ordnung und Frieden interessiert ist, die gegen Lesbarkeit und Verständnis geht, und sich nicht normalisieren oder in die Heterowelt eingliedern lassen will. 

Graz hat dann aber meine Recherche in andere Bahnen gelenkt. Dort habe ich Vera de Vienne und ihre Geschichte kennengelernt, wo es erstmal um Schönheit, Lust, Verführung und Sexyness geht. Ich habe dann gemerkt, das mit der Frage der queeren Kriminalität für mich die Themen von Lust und Freude eng verbunden sind, als untrennbare Kehrseite der Medaille. Ich bin gespannt, wie diese beiden Aspekte am Ende zusammenkommen. 

Was ist dir in Graz an Queerness begegnet? 

Cathrin und du hatten mich ja mit ein paar Leuten hier in Kontakt gebracht, unter anderem Georg Kroneis, der das Fetish Baroque-Projekt macht. Georg und ich waren spazieren, und er erzählte mir, dass es hier jetzt viel weniger queere Orte gibt als früher. Wir liefen über den Schlossberg und plötzlich stand da eine Gruppe von acht Leuten aus den unterschiedlichsten Fetisch-Communities: Latex, Sneaker etc. Wir haben uns dann lange unterhalten, und ich habe erfahren, dass sich durch Covid viel in den privaten Raum verlagert hat, und in Kellern und im Umland viele private Partys – für Sex, aber auch fürs Tanzen – passieren. Ich bin selbst eher im ländlichen Raum aufgewachsen und ich frage mich derzeit, wie Queerness im ländlichen Raum die Mainstream-Narrative der Großstädte verkomplizieren könnte. Mir haben die Orte jenseits der Metropolen immer sehr viel gegeben, wo die Community klein aber sehr lebendig ist. Es fühlt sich dort so viel besonderer an queer zu sein, als an Orten wie Berlin, wo alles gesättigt zu sein scheint und das schon vollkommen zum Mainstream gehört. 

Es scheint mir auch so, dass Graz gerade eher eine Flaute erlebt, was öffentliches queeres Leben angeht und die Bars gerade alle schließen. Das war ja mal anders. Eine der legendären queeren Orte von Graz ist das Club Café Werner. Und du hast vorhin schon kurz Werner Obermayer/Vera de Vienne erwähnt. Erzähl’ mir von eurer Begegnung!

In meiner künstlerischen Recherche ging es mir bisher um ein queeres (Über-)Leben in Zeiten, in denen es unmöglich und illegal war, offen queer zu leben. Und plötzlich treffe ich Werner/Vera, und erfahre von einer Geschichte, die das Gegenteil von einem Leben im Versteck und voller Schwierigkeiten und Probleme ist. Werner blickt auf eine Bühnenkarriere von über einem halben Jahrhundert zurück, die sich von Graz über Hamburg nach Prag erstreckt. Werner kam eigentlich von der Oper und dem Theater, hat dann aber gemerkt, dass er auch als Frau umwerfend aussieht, ohne aber auf der Bühne irgendetwas verstecken zu müssen. Er erzählte mir, wie bei einem Auftritt in Hamburg ein Soldat im Publikum buchstäblich vom Stuhl fiel, als er sah, dass Vera (damals Sabrina) einen Schwanz hatte, und dabei die ganze Bühne zu Boden riss. Am nächsten Tag kam er dann aber mit einer großen Gruppe zurück, weil ihm die Show so gut gefallen hatte.  

Was mich an den Geschichten von Vera/Werner interessiert, ist dass sie voller Konstellationen sind, die sich nicht ins Heute, in zeitgenössische Identitätskonzepte übersetzen lassen. Konstellationen, in denen eine lesbische Sexarbeiterin in eine Dragqueen verknallt ist, und diese dann mit cis-männlichen Hetero-Kunden mit ins Bett nimmt. Dafür gibt’s heute keine Worte, keine Begriffe, aber es klingt nach sehr viel Spaß. Der US-amerikanische Kunstwissenschaftler und Aktivist Douglas Crimp sprach in diesem Zusammenhang mal von „Queer before Gay“, also von einer im Grunde queeren Offenheit vor der schwulen und lesbischen Festschreibung von Identität.

Genau das interessiert mich bei meiner Recherche, ich will in die queere Vorzeit eintauchen. Es gibt historische Epochen, über deren queeres Leben wir kaum etwas wissen, wo es keine Bilder und keine Sprache gab. Davon möchte ich etwas ins Heute zurückbringen, als Ausweg aus dieser kommerzialisierten Queerness, mit der sich alle Unternehmen während des Pride-Month schmücken können.  

Die Performance von Colin Self wird am 25.2.2022 in der Halle für Kunst, Graz, zu sehen sein: https://halle-fuer-kunst.at/ausstellungen/give-rise-to-colin-self/

Kürzlich erschien sein Remix von Lyra Pramuks “Witness”, seine EP “Orphans” und die LP “Siblings” sind auf den meisten Streaming-Plattformen erhältlich. http://colin-self.com/

Titelbild: Colin Self | © Milena Braune