Person mit Tattoo am Oberarm

Virtuelle Familien

Warum wir das Internet endlich ernster nehmen sollten.

Ein virtuelles Sozialleben war für die meisten 2020 Normalzustand, doch für viele queere Menschen nichts Neues. Warum ist das so? Was können wir daraus lernen? Und warum sollten wir uns alle schleunigst eine virtuelle Familie zulegen?

2020 war das Jahr der Virtualität. Während Lockdown, Social-Distancing und Quarantäne nutzten unzählige Menschen die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation. Per Zoom, Skype, WebEx, Meet oder Jitsi hielten sie Kontakt mit Familie, Partner*innen, Freund*innen oder Arbeitskolleg*innen. Kulturinstitutionen versuchten sich am Live-Stream und DJs veranstalteten Online-Raves. In Ermangelung von physischen Treffen bot das Internet einen Ausweg, um die räumliche Distanz zu überbrücken. Für viele war dies das erste Mal, dass ein substanzieller Teil ihrer sozialen Interaktionen virtuell war. Äußere Zwänge machten ein reguläres Sozialleben schwer oder unmöglich. Die Virtualität bot eine sichere Alternative, um diese Zwänge zu umgehen. Bei allen Problemen, Störungen und Erschwernissen, die diese Alternative mit sich brachte, bot sie dennoch eine Rettungsleine in ­Ermangelung anderer, gangbarer Wege.

Rettungsleine Internet

Im Gegensatz zur breiten Gesellschaft benötigten zahllose queere Menschen diese Rettungsleine jedoch nicht erst aufgrund einer weltweiten Pandemie. Für sie war der physische Raum immer schon von äußeren Zwängen geprägt. Gerade in ländlichen und konservativen Gegenden fühlen sich queere Menschen oft alleine und abgekapselt. Gesellschaftliche Scham und Sanktionen halten bis heute viele Menschen davor zurück sich zu outen. Queere Lokale oder Zentren sind regional rar. Ganz zu schweigen von Ländern, in denen Teil der LGTBIQ-Community zu sein zu Repressionen, Gefängnis oder gar Tod führen kann. Für all diese Gruppen war und ist das Internet oft der erste oder einzige Zugang zu einer queeren Community.

Online-Queerness in Hülle und Fülle

Schon lange vor Social Media blühten diese Communities im Internet auf. In Message Boards, Chatrooms und Foren vernetzten sich bereits früh queere Menschen aus aller Welt. Doch heutzutage scheint der Regenbogen in den sozialen Medien allgegenwärtig. Auf tumblr tauschen sich queere Fans zu #destiel aus. Auf TikTok choreographieren sie zu Girl in Red. Auf Instagram zeichnen queere Comic Künstler*innen ihr Leben. Und auf YouTube bringen uns queere Filmemacher*innen die Welt und ihre Meinung dazu in Video Essays näher. Das Internet scheint voll von diesen queeren Communities zu sein. Es erfüllt anscheinend einen Bedarf für queere Räume, für Kontakt zwischen queeren Menschen.

Virtuelle Wahl-Familie

Hierbei ist ein zentrales Konzept die „Chosen Family“; die Familie, die wir uns aussuchen, nicht jene, in die wir geboren werden. Diese ist nicht nur Ersatz für eine biologische Familie, auch wenn sie dies für allzu viele aus der Community oft sein muss. Sie ist Ausdruck der eigenen Identität. Sie verbindet uns mit Menschen, die unsere Erfahrungen teilen. Sie zeigt uns neue Möglichkeiten zu leben und unterstützt uns dabei, diese auch umzusetzen. Eine Chosen Family muss jedoch gefunden werden, muss sich vernetzen können, muss sich austauschen können. Queere Communities können als solche fungieren und speziell in der Sozialisation junger, queerer Menschen eine zentrale Position einnehmen.

Authentische Masken

Denn gerade für besonders marginalisierte LGBTIQ-Menschen sind soziale Medien oft die erste Möglichkeit für eine authentische Selbstrepräsentation. Es scheint ironisch, dass gerade ein Raum, der für seine Scheinhaftigkeit und Künstlichkeit verschrien ist, für viele Authentizität überhaupt erst ermöglicht. Doch die gleichen Mechanismen, welche es erlauben nach Belieben Masken anzulegen und auszuprobieren, gestatten es auch, diese zum ersten Mal abzulegen. Im besten Fall kann das Internet so als Spielwiese von Identität funktionieren, ohne Konsequenzen und Sanktionen im physischen Umfeld befürchten zu müssen. Auch wenn dieser Mangel an Konsequenzen im Umkehrschluss wiederum Cyber-Bullying und Hate Mobs freie Hand lässt.

Ausgeträumte Utopie

Das Internet ist nämlich nicht der utopische Ort, den sich viele in den Anfängen ersehnt haben. Die Träume einer freien Gesellschaft, frei von Zwängen, frei von Vorurteilen, frei von Marginalisierung haben sich (noch) nicht bewahrheitet. Bei allem Potential, welches das Internet bietet, ist es dennoch nicht frei von Fehlern und Mängeln. Ja, es eröffnet neue Wege und Möglichkeiten, es bringt Menschen zusammen und ist für viele eine Rettungsleine. Doch die Menschen, die diese Wege gehen, die zusammenkommen, selbst die, die gerettet werden, sind die gleichen Menschen wie im Rest unserer Welt. Sie bringen all ihre Ideale, all ihre Offenheit, all ihre Inspirationen mit. Sie bringen aber auch all ihre Vorurteile, all ihre Konflikte und, auch all ihren Hass mit.

Das Internet ernst nehmen

Gerade das ist der Punkt, den uns dieses Jahr und diese Situation zeigen sollten. Das Internet ist kein getrennter Raum vom Rest der Welt. Es ist Teil dieser Welt, ist Teil unserer Welt. Es liegt an uns es als Teil dieser Welt ernst zu nehmen. Die Menschen, die es nutzen, ernst zu nehmen. Unsere eigene Nutzung davon ernst zu nehmen. Virtualität bedeutet nicht Konsequenzlosigkeit, es bedeutet nicht Irrealität. Viele queere Menschen haben das schon lange verstanden. Vielleicht hat 2020 ja geholfen, dass auch der Mainstream das langsam erkennt.

Das Buch von Kath Weston „Families We Choose: Lesbians, Gays, Kinship“ bietet einen detaillierteren Blick auf das Konzept Chosen Family. Auf YouTube widmet sich unter anderem Sarah Z obskuren Online-Communities mit einem analytischen Blick.

Titelbild: unsplash.com, Shane